Lieber Leser, liebe Leserin,
falls in 208 Jahren einem Archäologen oder einem Literaturwissenschaftler der erste Auswahl-Ausdruck für diese Ausgabe in die Hände fallen sollte, wird er zu dem Schluss kommen, dass die Menschen im Jahr 2014 wenig optimistische Zeitgenossen waren und sich besonders mit Naturphänomenen wie Regen und Nebel oder mit der Vergänglichkeit des Lebens beschäftigten. Wenn Mensch bedenkt, dass die Ausschreibungsfrist für diese Ausgabe von November bis Januar dauerte, dann ist es nicht wirklich verwunderlich, da ein großer Teil der Haiku in dieser Zeit entstanden sein dürften. Aufgrund der Vielzahl der Zuschriften ist dennoch eine weitgefächerte Ausgabe aktueller deutschsprachiger Haiku, Senryo und Tanka entstanden, auch wenn ein etwas spätherbstlicher Unterton bleibt.
"Small is Beautiful", lautet ein Buchtitel des österreichischen Publizisten Leopold Kohr, in dem er den Nachweis führt, dass größere Verbände eher zu Gewalt neigen als Kleine, einfach dadurch, dass die einzelnen Teile bei Verlust einfacher ersetzt werden können. Nun lässt sich diese Theorie nicht eins zu eins auf die Literatur übertragen. Allerdings ist es als Motto durchaus passend. Legt man nicht den strengsten Ansatz an die klassische Interpretation des Schauspielergedichts (jap. Haiku) an, dann ist es durchaus erstaunlich wie viele Bilder, Metaphern und Ebenen in 17 oder 31 Silben zu finden sein können. Zumal es unmöglich ist die Vieldeutigkeit und die Mehrfachbedeutungen der japanischen Schriftzeichen im deutschen wiederzugeben.
Für diese Ausgabe war zudem die Frage zentral, wie Mensch drei kurze Zeilen auf eine Seite setzt ohne dass diese im Weiß der Seiten verschwinden, eine riesige Schriftgröße gewählt werden muss oder die einzelnen Wörter und Zeilen einfach "auseinanderfallen". Ich hoffe die Umsetzung ist gelungen.
Über die Arbeiten von Franziska Semtner, die für diese Ausgabe einige Ihrer wunderbaren Skizzen und Steindrucke zur Verfügung gestellt hat, findet sich im hinteren Teil ein Text von Mandy Jeserich. Anschließend noch eine kurze Betrachtung zu Haiku, Tanka und Senryu.
Eine angenehme Lektüre wünscht
silvio colditz
Der Maulkorb #13, 79 Seiten, DIN A4 mit festem Einband, 4 Euro, ISSN 1865-9586
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen